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5.4 Vorbereitungen zum Sanhedrin
Mit der Beantwortung der zwölf Fragen der Notabelnversammlung schien Napoleon das jüdische Leben in seinem Reich abschließend regeln zu wollen. Allerdings musste ein Weg gefunden werden, der die Antworten für alle Juden verbindlich machte und ihnen damit Gesetzesform gab.
Wer dem Kaiser die Idee gab, diese Festlegung durch eine Versammlung der höchsten Autorität der jüdischen Jurisdiktion zu erreichen, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Nach Grätz könnten Sinzheim oder Furtado Urheber dieser Idee gewesen sein.[157]
In einem Bericht vom 23. August 1806 befürwortete Napoleon die Umwandlung der Notabelnversammlung in ein großes Sanhedrin. Das hebräische Wort Sanhedrin (griechisch: Synedrion, lateinisch: Synedrium) kann mit Hoher Rat übersetzt werden und war die höchste, aus insgesamt 70 Priestern, Laien und dem Hohenpriester als Vorsitzendem bestehende Behörde für innerjüdische Angelegenheiten sowie allgemeine und religiöse Gerichtsbarkeit in Jerusalem vom 2. Jh. v. Chr. bis zur Zerstörung des Tempels 70 nach Christus.
Das Anknüpfen an diese alte jüdische Tradition kann als genialer Schachzug Napoleons gelten, auch weil sie der aktuellen politische Situation Rechnung trug. Schließlich brauchte der Kaiser auch die Unterstützung der Juden in den ehemaligen polnischen Provinzen bei seinem Kampf gegen Preußen.[158]
Zwar gab es verschiedene Meinungen über die Umwandlung der Notabelnversammlung in das Sanhedrin, vor allem einige Kommissare waren skeptisch, generell wurde der Schachzug aber begrüsst, weil sicher war, das – nach van der Walde – „kein Jude des Occidents sich weigern [würde], dem Sanhedrin zu gehorchen.“[159]
Auch wenn Napoleon mit dem Sanhedrin eine alte mosaische Tradition mit seinen Interessen und einer neuen und grundlegenden Gesetzgebung verbindet, so ist van der Waldes überschwängliche Begeisterung, dass Napoleon „sich jetzt gewissermaßen zu der Rolle eines zweiten Moses emporgeschwungen“[160] hätte, nicht zu teilen. Denn der Kaiser zeigte weiterhin eine sehr negative Meinung über die Juden in seinem reich und ließ ihr Bürgerrecht systematisch einschränken.
Das Sanhedrin setzte sich schließlich aus 45 Rabbinern zusammen, von denen 30 aus Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal und Spanien stammten und weitere 15 aus der Versammlung berufen wurden. Hinzu kamen 24 Laien, jeweils acht französische, deutsche und italienische Juden und ein gesondert zu ernennender Präsident.[161]
Zunächst wurde eine Neuner-Kommission gegründet, um in allen Synagogen Europas die Zusammenberufung des Sanhedrins zu verkünden. Den Eindruck, den dieses in vier Sprachen verfasste Dokument hatte, war nach Grätz[162] und van der Walde[163] gewaltig. Einige Gemeinden äußerten sich allerdings nicht offiziell dazu, wohl gemäß Grätz wegen der Angst vor ihren jeweiligen Regierungen.
Positive Stellungnahmen sind aus Frankfurt am Main und aus Amsterdam bekannt. Einige große Gemeinden Preußens sahen in dem vom französischen Kaiser einberufenen Sanhedrin eine Schmach. „Gerade die Beteiligung der Juden an den preußischen Befreiungskriegen scheint diesen Standpunkt zu rechtfertigen.“[164]
Von der Dreigemeinde ist ebenfalls keine Stellungnahme bekannt. Zwar mussten sie eine Rache der jeweiligen Regierungen weniger fürchten, aber sowohl aufgeklärte als auch orthodoxe Juden hatten ihre Gründe zur Skepsis. Dem konservativen Rabbinat, das als einzige Institution eine offizielle Stellungnahme hätte formulieren können, war der ganze Vorgang einer angestrebten Assimilierung zuwider, die Haskalah-Kreise hingegen bewegten sich auf einen Patriotismus zu, der auch die negative Sichtweise der Franzosenzeit mitbegründete. In Berlin stellte sich der Haskalah-Kreis um David Friedländer ebenfalls gegen das Sanhedrin.
In Paris waren organisatorische Dinge zu klären. So konnten sich einige verarmte Rabbis den Aufenthalt in der teuren Stadt nicht leisten, weswegen prompt eine Sonderbesteuerung aller Juden eingeführt wurde, um alle an der feierlichen Eröffnung teilhaben zu lassen.
Ziel sollte es gemäß der Kommission sein, die jüdische Religion zu einer staatlich anerkannten zu machen, oder, wie Molé es am 18. September 1806 verkündete, die Integrität der Religion mit den vollständigen bürgerlichen Rechten in Einklang zu bringen.
Dazu wurden die Fragen verhandelt, die auch in Hamburg gerade aktuell waren. Ein großer Diskussionspunkt war schließlich die Zurücknahme der Polizeigewalt von Rabbinern, die schließlich beschlossen wurde. Ihre Machtfülle und Banngewalt war an mehreren Orten Europas zu einem Problem geworden und überall ein Dorn im Auge der jeweiligen Behörden, weil die rabbinische Jurisdiktion ihre Zuständigkeit untergrub.
Die Bestrebungen zur Eröffnungsfeier des Sanhedrins wurden immer deutlicher und so sprangen auch die Kirchen auf den fahrenden Zug auf: Isaac Samuel Avigdor aus Nizza hielt am 5. Februar 1807 „eine Rede, in der er den Beweis zu erbringen suchte, dass die Häupter der christlichen Kirche den Juden immer Wohlwollen entgegengebracht hätten, weshalb die Juden ihnen zu Dank verpflichtet seien.“[165]
Irritiert machten Innenminister und Kommissare dem Kaiser Meldung über diesen ungewöhnlichen Vorgang, der sogar als Beschluss aufgenommen wurde.
[157] Vgl. Grätz (1900), S. 291.
[158] So spekuliert Grätz (1900), S. 291.
[159] Van der Walde (1933), S. 45.
[160] Ebd., S. 44.
[161] Ebd., S. 45.
[162] Grätz (1900), S. 293.
[163] Van der Walde (1933), S. 46.
[164] Ebd., S. 46.
[165] Ebd., S. 48.
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