Synagoge

Die Aufteilung der jüdischen Dreigemeinde in Hamburg 1812

von Simon Hollendung

3.4 Die letzte Phase der Dreigemeinde und ein kurzer biografischer Abriss der letzten Oberrabbiner

Ab den 1750ern ist im westeuropäischen Judentum eine allgemeine Schwächung der Tradition und vor allem der tradierten Institutionen, namentlich des Rabbinats, zu verzeichnen.[91]
Dieser Vorgang des Niederganges zog sich in Hamburg etwas länger hin, da das konservative Oberrabbinat im Amulettenstreit letztlich einen Sieg erreicht, der durch ihre beherrschende Kraft im gesamten Hamburger Raum (und darüber hinaus) die aufgeklärten Kräfte (noch) an ihrer freien Entfaltung hindern konnte.
Der Sabbatianismus, auch Auslöser des Amulettenstreit und sowohl in aschkenasischer wie sephardischer Gemeinde eine Gefahrenquelle[92], führte in den meisten europäischen Ländern zu einem Zusammenbruch der bisherigen politischen und institutionellen Autonomie.
Zwar gibt es regionale Unterschiede, generell kann aber die ab ca. 1780 beginnende Haskalah-Bewegung als zumindest indirekte Antwort auf die Schwächung des traditionellen Rabbinats in den meisten Ländern Europas nachgewiesen werden.[93]
Gemeinsam war diesen Transformation- und Modernisierungsprozessen überall die Kritik am Rabbinat als Institution, auch als Auswirkung des Hamburger Amulettenstreits auf ganz Europa. Die Funktion des Rabbiners als traditioneller Wächter der rituellen Reinheits-Vorschriften oder als moderner Prediger und Seelsorger wurde laut Freimark auch in der Dreigemeinde kontrovers diskutiert.[94]
Nach dem Tode von Jonathan Eybenschütz übernahmen Jizchak Halevi Horwitz und David ben Jehuda Berlin jeweils für eine sehr kurze Zeit das Oberrabbinat. Vor allem letzterer zeichnete sich als konservativer Bewahrer aus, wie nach fünfjähriger Vakanz auch sein Nachfolger Raphael Cohen. Cohens Amtszeit ragte nicht nur aufgrund der langen Zeitspanne (1776 – 1799) im Vergleich mit den anderen für jeweils nur wenige Jahre amtierenden Oberrabbinern heraus, es stellt auch durch seine Person und Selbstverständnis seines Amtes als Kauscherwächter der Vorschriften und strenger Gemeindeführer den Endpunkt des althergebrachten Rabbinats da.
Zwar gibt es auch Hinweise auf Cohen in nicht-jüdischen Publikationen und gilt er wegen vieler Veröffentlichungen als anerkannte Persönlichkeit, doch bezeugen mehrere Quellen vor allem, dass er „konsequent gegen jede Neuerung auftrat und sich als strenger Vertreter der jüdischen Tradition erwies.“[95]

Diese Quellen sind

1. Die Autobiographie Salomon Maimons, den Cohen vor das Rabbinatsgericht zitierte, weil seine Frau in Polen seine Rückkehr oder den Scheidebrief verlangte. Cohen tadelt bei einem privaten Treffen mit Maimon „den fehlenden Bart und die Tatsache, dass Maimon nicht die Synagoge besuche.“[96]

2. Quellen des Staatsarchivs, die mehrere typische Konfliktfälle dieser Zeit schildern, wie das Widersetzen der Wandsbeker Gemeinde gegen Cohens Banngewalt und die öffentliche Erklärung, dass der ausgesprochene Bann nichtig sei sowie weitere Akten über den ständigen Streit um die Befugnis des Rabbinatsgerichtes.[97]

3. Der Fall Samuel Marcus: Ein Börsenmakler, der öffentlich die „Thora gut, aber in schlecht verwaltenden Händen“ nannte und dafür von Cohen mit dem großen Bann bedroht wurde. Marcus sollte durch sechs Punkte büßen: 2x täglicher Gottesdienstbesuch; 2 x wöchentliches Fasten; einen Rabbi einstellen, der ihm das Gesetz lehrte und seinen Haarbeutel (eine Modeerscheinung) ablegen und runde Frisur sowie einen Bart tragen.

Die Strenge und Rigidität dieser Entscheidung steckte in einer weiteren Gefahrenquelle für das traditionelle Rabbinat, die eben zu dieser Zeit auftauchte: Samuel Marcus hatte unter dem Namen Natanael Posner die deutsche Torah-Übersetzung des Moses Mendelssohn subskribiert (als einer von nur acht jüdischen und zwei christlichen Subskribenten im Hamburger Raum, darunter keiner aus Altona. Dies gibt einen Hinweis auf das Vorkommen von Traditionalismus (Altona) und Moderne (Hamburg).
Die jetzt beginnende Auseinandersetzung entfernte sich schnell von dem Fall Samuel Marcus, obwohl von persönlichen Angriffen begleitet, und begab sich auf eine Ebene, auf der Cohen um die prinzipielle Funktion des Rabbinats mit seiner Jurisdiktion und damit enthaltener Banngewalt stritt. Dadurch wird der Fall für die historische Betrachtung in seinen Eskalationsstufen exemplarisch.[98]
Am 20. September 1781 bat Samuel Marcus den dänischen König, ihn „aus dem Gerichtszwange des Oberrabbiners und der Ältesten in Altona zu entlassen“[99] und legte einen Verweis auf einen Präzedensfall bei.
Am 13. Oktober 1781 stimmte die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen diesem Gesuch zu, Oberpräsident von Gähler entließ Marcus aus der Banngewalt des Oberrabbinats.
Am 27. November 1781 legte Cohen nach vorheriger Bitte um eine Klarstellung eine Rechtfertigungsschrift vor, die 83 Seiten und 18 Anlagen umfasste. Darin wurde die Exempelqualität des Falles deutlich, weil Cohen ausdrücklich die Querellen zwischen Hamburg und Altona benannte und mit Nachdruck darauf verwies, dass Hamburg zur altonaischen Jurisdiktion gehört und das im Allgemeinen zur Zeit eine „gefährliche Freigeisterei und Irreligiösität[100]“ im Hamburger Raum um sich gegriffen habe.
Zum eigentlichen Fall schrieb Cohen, dass Marcus sich dreimal geweigert hätte, vor Gericht zu erscheinen, und in der Synagoge wiederholte, dass die Thora gut sei, aber Diebe und Spitzbuben sie in den Händen und falsche Translateure verfälscht hätten. Das Rabbinatsgericht hatte Marcus deswegen für 30 Tage in den Bann gelegt und dieser schien einlenken zu wollen, als Cohen nachlegte: Sein Verhalten als einziger Jude an der Hamburger Börse mit Haarbeutel wurde Samuel Marcus zur Last gelegt und dass jeder verheiratete Jude wenigstens einen halben Finger breit Bart zu tragen hätte. Außerdem würde ein naher Verwandter des Angeklagten ein Verhältnis mit einer Prostituierten unterhalten.
Diese Verteidigungsschrift von Cohen zeigte große Wirkung. Oberpräsident von Gähler entschied, dass der Rabbi in Eid und Recht stehe, ihm sei daher Glauben zu schenken. Das Rabbinat habe pflichtgemäß gehandelt, nur im Religionssystem der Juden selber sei ein Fehler, der solch eine Diskussion überhaupt erst ermöglichte. Die Kritik an der jüdischen Organisation ihres Kultes lässt später auch Napoleon die Gemeindeverfassung dekretieren (Vgl. Kap. 5 und Anhang A). In diesem Bereich gibt es von aufgeklärten Juden ab ca. 1800 sehr große Annäherungen an den christlichen Gottesdienst, v.a. im Bereich Liturgie, Orgelspiel und Lesungen in der Landessprache statt hebräisch.
Nach Rücksprache mit der dänischen Krone[101] empfahl von Gähler zur Sache, den Status quo beizubehalten und in Zukunft solche Fragen und vor allem den Bann mit äußerster Klugheit und Vorsicht anzugehen.
Den Übergang zum modernen, aufgeklärten Judentum konnte Cohen nicht aufhalten. „Hierbei musste er – und mit ihm das ganze herkömmliche Rabbinat – scheitern, da er die […] Umbrüche der Zeit nicht erkannte und aufgrund seiner Sozialisation vielleicht auch nicht erkennen konnte.“[102]
In der Forschung warnt Freimark davor, Oberrabbiner Cohen nur als orthodoxen Finsterling darzustellen, schließlich hätte dieser versucht, jüdische traditionelle Lebensformen in einer sich veränderten Umwelt aufrecht zu halten und dabei rechtsverbindliche Positionen eingenommen. Allerdings bleibt Cohen – wenn auch nicht als polemisches, einseitiges Antibild der Moderne – als maßgeblicher Vertreter des altjüdischen Traditionalismus ein Beispiel für die Kauscherwächter in einer dynamischen Zeit.
Cohen trat 1799 zurück. Er gab gesundheitliche Gründe für diesen Schritt an. Ob die eingeschränkte Banngewalt der eigentliche Grund des Rücktritts war oder ob der Streit sich auf seine Gesundheit ausgewirkt hatte, ist nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren.[103]
Auch Cohens Wunsch, nach Israel zu reisen, ist gemäß Freimark „symptomatisch für das Ende einer Epoche und das Auslaufen herkömmlicher gemeindlicher Strukturen und Traditionen.“[104]
Als weitere Entwicklung sieht Herzig „schon in den 1790er Jahren […] das Bestreben der Hamburger Juden, stärker am öffentlichen Leben der Stadt, auch in kritischen Situationen, teilzunehmen."[105]
Patriotischer Eifer ließ auch die anbrechende Franzosenzeit, trotz bürgerlicher Rechte, im Rückblick vieler Juden als Unterdrückung erscheinen und setzte sich in der großen Zahl der jüdischen Kriegsfreiwilligen im I. Weltkrieg fort. Verhängnisvoller Weise setzten viele Kriegsveteranen zum Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung auf ihre Verdienste um Deutschland und hielten die Agitation gegen die Juden für reine Propaganda. Viele schafften es daher nicht mehr, sich vor den National-Sozialisten in Sicherheit zu bringen.

Geburtstagsgedichte Trauersprüche

[91] Vgl. Freimark, Peter: Die Entwicklung des Rabbinats nach dem Tode von Jonathan Eibenschütz 1764 bis zur Auflösung der Dreigemeinde AHU 1812, in: Freimark, Peter u. Herzig, Arno (Hrsg.): Die Juden in der Emanzipationsphase 1780 – 1860, Hamburg 1991, S. 9-21. Hier: S. 9. [1991b]

[92] Vgl. für die Sepharden Kap. 2.3 und für die Aschkenasim Kap. 3.6 dieser Arbeit.

[93] Vgl. Grätz, Heinrich: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd.11, Leipzig 19002.

[94] Vgl. Freimark (1991b), S. 10. Die Emanzipationsphase gehört zu einer durch Quellen schlecht belegten Zeit. Freimark stützt sich auf die Arbeiten von Schorsch und Katz und ihren regionalgeschichtlichen Aspekt als einzigen Ausweg aus dem Quellen-Dilemma. Der bei Marwedel vorsichtig benutze Begriff der Gemeinde- Konförderation wird bei Freimark generell nur als Dreigemeinde weiter geführt.

[95] Vgl. Ebd., S. 11.

[96] Ebd.

[97] Speziell zum Eybenschütz-Streit sind verschieden Akten ab 1750 erhalten: StaAHH BJG 522-1 88 b Sa.

Verschiedene Akten schildert das Konfliktpotenzial zwischen den Gemeinden, vor allem der ständige Zwist um die gemeinsame Rabbinerwahl ist von 1669 – 1776 belegt: StaAHH BJG 522-1 88 c Sa.

[98] Vgl. Freimark (1991b), S. 16-21und Haarbleicher (1867), S. 29. Quellen in: Maarwedel (1976), S. 339 – 441.

[99] Freimark (1991b), S. 14.

[100] Vgl. Ebd, S. 15.

[101] Ein Reskript von Christian VII. an Oberpräsident von Gähler, in: Marwedel (1973), S. 339.

[102] Freimark (1991b), S. 18.

[103] Freimark (1991b), S. 18, sieht gesundheitliche Gründe.

[104] Ebd.

[105] Herzig (1991), S. 66.
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